Vom Kontinent zur Union by Middelaar Luuk van

Vom Kontinent zur Union by Middelaar Luuk van

Autor:Middelaar, Luuk van
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-07-14T16:00:00+00:00


Die Form der Union

Die erste ambitionierte Antwort der Zwölf auf den Mauerfall war der Vertrag zur Gründung einer europäischen Union. Sie kündigten ihn auf dem am 9. und 10. Dezember 1991 stattfindenden Gipfel von Maastricht an. Eine gemeinsame Währung und Außenpolitik gehörten zu den wichtigsten Neuerungen. Gleichzeitig änderte sich die Gemeinschaft, sie legte das Adjektiv »wirtschaftlich« ab, und die Zusammenarbeit wurde auf zusätzliche Bereiche ausgedehnt. Der Unterschied zwischen der Union und der Gemeinschaft kann nicht stark genug betont werden und betrifft den Ort, den der Mitgliederkreis im Strom der Ereignisse von nun an einzunehmen plante. Das Schlüsselwort hierbei war Verantwortung. Das fundamental Neue an der Union war die Absicht der Mitgliedstaaten, die Verantwortung von nun an formal gemeinsam tragen zu wollen. Das zog eine wesentliche Politisierung des Bündnisses nach sich.

Eine wichtige Folge dieser Politisierung wurde jedoch kaum wahrgenommen: Sie untergrub nämlich die Fiktion der rechtlichen Gleichheit aller Mitgliedstaaten. Die Kraft der Gemeinschaft hatte von Anfang an in der Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer gemeinsamen Bühne beziehungsweise eines gemeinsamen Spielfelds für alle ökonomischen Akteure gelegen. An diesem Spiel beteiligten sich Betriebe, Konsumenten, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, jedoch nicht die Staaten. Dass es nun auch europäische Spielregeln gab, bedeutete für diese im Gegenteil eine Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit (etwa wenn Subventionen an nichtwettbewerbsfähige Betriebe oder Industrien verboten wurden). Somit war die nützliche Fiktion der Gleichheit vor dem Gesetz (Deutschland hat dieselben Rechte wie Luxemburg) während der Gemeinschaftsjahre plausibel. Dies stand zwar im Widerspruch zu den realen Machtverhältnissen, aber da die Gemeinschaftsregeln vor allem Selbstverpflichtungen der Mitgliedstaaten darstellten, während für Aufsicht und Kontrolle die europäischen Institutionen zuständig waren, funktionierte es.

In der Union sieht das nun anders aus. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, stehen die Mitgliedstaaten jetzt gemeinsam auf der Bühne, und man erwartet, dass sie etwas unternehmen. Sie sind keine neutralen Schiedsrichter oder hilfsbereiten Bühnenarbeiter, wie man sie aus den Zeiten des gemeinsamen Markts kannte, sondern die Hauptdarsteller, die den Plot in Gang setzen und mit allerhand überraschenden Herausforderungen zurechtkommen müssen. Anders ausgedrückt: In der Union verfügt jeder Mitgliedstaat über eine Armee, ein diplomatisches Corps, einen Polizeiapparat, über Macht und seine eigene Geschichte. Allerdings kann man diese jetzt nicht länger hinter einem Vorhang verbergen, um die Fiktion der rechtlichen Gleichheit aufrechtzuerhalten. Diese Eigenschaften entscheiden vielmehr darüber, wie viel Verantwortung der Einzelne tragen kann oder will. Und die Antwort auf diese Frage lautet dann eben: Deutschland mehr als Luxemburg oder Griechenland. Damit sind die Mitgliedstaaten in der Union nicht mehr gleich: Sie sind groß oder klein, reich oder arm, haben eine lange oder eine kurze Außengrenze, freundlich oder feindlich gesinnte (äußere) Nachbarn. Dies hat den Charakter des Zusammenseins grundlegend verändert.

Diese Ungleichheit tritt im Umgang mit Frau Fortuna deutlich zutage. Zunächst hat jeder Mitgliedstaat seine individuelle geographische Lage. Deutschland ist seit je eng mit den Ökonomien und sonstigen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa verbunden. Frankreich empfindet eine gewisse Verantwortung gegenüber Gebieten jenseits des Mittelmeers – von Nordafrika bis zum Nahen Osten – und will andere südliche Mitgliedstaaten mit in die Pflicht nehmen. Schweden und Polen haben seit Peter



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